(Montag, 22. Juli 2019 – Erster Arbeitstag, 15:00 bis 16:30 Uhr)

Susanne Gerull, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, stellte auf dem Wohnungslosentreffen Herzogsägmühle 2019 ihre gleichnamige Studie im Rahmen eines Workshops vor.

Die Studie basiert auf ihrer teilnehmenden Beobachtung von Hausversammlungen von Wohnungslosenwohnheimen und Workshops mit Wohnungslosen und Sozialarbeiter*innen zum Thema Beteiligung. Sie stellte dabei ein große Distanz im Bereich Partizipation zwischen Wohnungslosen und Professionellen fest.

Es wurden von der Referentin mehrere Beispiel dem Publikum präsentiert. In den Fallbeispielen, die realen Beobachtungen entstammten, wurde gezeigt dass die Professionellen, also die Sozialarbeiter*innen etc., wenig Interesse an Beteiligung haben. Diese findet zum Beispiel eher als eine Simulation statt. Wenn beispielsweise bei der Wahl zum Bewohnerbeirat im Männerwohnheim nur der Wunschkandidat antritt und auf Drängen der Sozialarbeiterin formal mit nur einer Stimme gewählt wird.
Eine demokratische Teilhabe wird auf unterschiedliche Art abgewehrt: Durch Infragestellung des Mandats bei den Betroffenen-Initiativen, durch Demokratie-Simulation statt echter Demokratie oder durch schlichte Nicht-Beteiligung, z.B. bei Personalentscheidungen.

Es wurde in der Diskussion der Begriff der „soziale Anwaltschaft“ kritisiert, obwohl der Begriff der Anwaltschaft früher gegenüber dem Begriff der „Fürsorge“ ein Fortschritt gewesen ist.

Die Referentin stellte dabei auch die in der Sozialwissenschaft oft verwendete neunstufige Partizipationsleiter vor, mit der die Formen der Partizipation nach Qualität eingestuft werden.
Susanne Gerull Stufen der Partizipation 2019 07 22 1032x696px

Am Ende wurden Vorschläge zum Thema „Was tun?“ bzw. wie man echte Beteiligung umsetzen kann, gesammelt:

  • Nicht von „Leitlinien“ sprechen, die sowieso nicht umgesetzt werden
  • Hausordnung bzw. Regeln, die „Einklagbar“ sind und mit den Bewohnenden festlegt werden
  • Aufklären über Rechte
  • Menschenrechte achten
  • Untereinander die Wahrheit sagen
  • Keine „Pathologisierung“ armer Menschen
  • Transparenz schaffen über Entscheidungen
  • Mieterrechte schaffen
  • Mehr Eigenengagement der Betroffenen
  • Fortbildung für Mitarbeitende, um zu Partizipation zu ermutigen
  • Recht auf Wohnen ins Grundgesetz
  • Von anderen Kämpfen lernen
  • Nicht alle über einen Kamm scheren
  • Mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, gegebenenfalls umverteilen
  • Nicht nur Recht auf Wohnen, auch das Recht auf Umzug

Wir danken Susanne Gerull für ihren interessanten Workshop, der allen Teilnehmenden noch einmal verdeutlicht hat, dass das Thema „Mitwirken“ in der Wohnungslosenhilfe auch in Zukunft noch einiges Potential an Verbesserungen für betroffene Menschen bereithalten sollte. Wir denken, dass miteinander reden und handeln auf Augenhöhe dabei höchste Priorität haben sollte.


Nachtrag:

Susanne Gerull stellte dem Projekt Wohnungslosentreffen auch noch folgende Bilder und Notizen vom Workshop zur Veröffentlichung zur Verfügung:

Susanne Gerull Was tun 1 1280x1680px
Susanne Gerull: Notizen „Was tun #1“

(1)

In einem Fachverband wird in einer Sitzung die Partizipation Betroffener diskutiert. Wie könnten bspw. Betroffenenvertretungen stärker in fachpolitische Positionen und Entscheidungen eingebunden werden? Einem Referenten eines großen Trägerverbandes platzt irgendwann der Kragen: „Moment, Moment! Wir können doch den Betroffeneninitiativen nicht das gleiche Stimmrecht zugestehen wie uns Wohlfahrtsverbänden, die Tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertreten! Wer hat die denn im Einzelnen mandatiert, wer hat die gewählt?“

(2)

Bewohner_innenvollversammlung in einer stationären Einrichtung. Auf der Tagesordnung steht die Neuwahl eines Bewohner_innenbeirats. Der moderierende Sozialarbeiter fragt, wer sich zur Wahl stellen möchte. Ein neuer Bewohner meldet sich und sagt, dass er das gern machen möchte. Bei der Abstimmung meldet sich niemand für ihn. Der Sozialarbeiter wendet sich an dessen Zimmernachbarn und sagt: „Willst du ihn nicht wählen? Ihr kommt doch gut miteinander aus!“ Beim zweiten Versuch der Wahl meldet sich der Zimmernachbar. Der Sozialarbeiter fragt, wer dagegen sei. Niemand meldet sich. Er sagt: „Prima, dann ist Herr Lanzer gewählt.“

(3)

 WG-Versammlung in einer Einrichtung nach §§ 67 ff. SGB XII. Einer der Bezugsbetreuer_innen erzählt, dass eine Stelle neu ausgeschrieben werden musste, weil eine Sozialarbeiterin den Träger verlässt. Bewerbungsgespräche fänden in drei Wochen statt. Die oder der Neue würde dann hoffentlich bald anfangen können. Eine WG-Bewohnerin sagt: „Da wäre ich gern dabei! So mal gucken, was die erzählen, wie die so drauf sind.“ Die drei anwesenden Sozialarbeiter_innen gucken sich an und fangen gleichzeitig an laut zu lachen.

Susanne Gerull Was tun 2 1280x1680px
Susanne Gerull: Notizen „Was tun #2“

Joomla templates by a4joomla