Gedanken eines Helfenden

Vorbemerkung. 10 Tage nach dem Wohnungslosentreffen in Freistatt 2016 erreichte mich die email eines Helfers, der in einem sehr ergreifenden Text versucht hat, in Worte zu fassen, was ihn bewegt hat in diesen Tagen. Ich denke, es ist richtig, ihn hier in anonymer Form öffentlich bekannt zu geben.
Stefan Schneider, Projektkoordinator

Danke, daß ich dabei sein durfte! (auch wenn ich nur Notnagel war)

Ich möchte sagen: Teilhabe = an einem Projekt beteiligt sein, an der Gestaltung einer Zukunft / = nicht Teilnehmen an etwas als Konsument.
Die Zukunft = Rettung der Welt, Frieden auf Erden, Weihnachten, das Reich Gottes, Erlösung, Auferstehung, der Jüngste Tag, "Kehret um!", usw., p. s.: "Eat the Rich", "Deutschland verrecke!"

Mein Verhalten: ich habe Zivildienst geleistet im psychiatrischen Krankenhaus Lohr a. M.: also in der Irrenanstalt. Eine Redewendung ist: "der muß nach Lohr" (angeblich ist Lohr die Heimatstadt von Schneewittchen)
Freistatt war für mich: eine Lohr-Gedenkveranstaltung.
Ich habe in Haus 8 gearbeitet: da waren Bewohner drin ab 18 Jahren und Leute, die waren schon 50 Jahre in Lohr. Und alle waren drauf.

Es waren unterschiedlichste Leute. Verhaltensauffällige Behinderte, Peter war blind und schwerhörig, aber ein Schwerenöter, Alois hatte einen kleinen Mann auf der Schulter sitzen, mit dem er rege nuschelte, während er mit mir nicht sprach, usw. Es gab auch Frauen. Else hatte einen Schuldkomplex, also eine Zwangsneurose mit Waschzwang, zur Belohnung ihrer guten Führung, durfte sie einmal am Tag Geschirr spülen, bis die Haut rot war.
Es gab einen Blinden, der schlug um sich, und sich selbst, wenn ihn ein Tropfen Wasser berührte. Er schlug sich dabei beide Augen aus.
Eine anderer Blinder war autoaggressiv, weil er ein Adrenalinjunkie war. Er war gefesselt und trug einen Helm. Er war ständig dabei, sich zu befreien, nicht um zu fliehen, sondern um sich blutig zu schlagen, zu kratzen, zu stechen, zu beißen, für das Lustgefühl.

Alles liebe Leute.

Freistatt ist auch so eine Population gewesen und ich der Zivi, der mit dem Hausmeister verwechselt wird.
Du bist der Stationsleiter gewesen. Frank und Janine waren die Pflegedienstleitung. usw.
Freistatt war nicht nur ein Treffen von Haus 8, es war eine "Psychiatrie im Moor".
Die Verrückten und Irren wollten beschäftigt werden. Es gab viele Krankheitsbilder. Suchtkranke, Paranoiker, Neurotiker, Depressive, Maniker, die Schizos lasse ich mal weg, Therapie statt Strafe, ... Jede Krankheit hat eine Geschichte.

Meine Sympathie gilt den Schwachen, die ich tödlich verletzen könnte, wenn ich ihnen sagte, was ich sehe. Das Zukunftsprojekt ist nicht: gesund werden, die Krankheit heilen. Freistatt ist mehr so eine Art Rebellion, Revolte auf der Geschlossenen, also: Einer flog über das Kuckucksnest.
Die einen werden lobotomiert, einer wird entjungfert, einer haut ab, kommt frei.
Die Geschlossene öffnet sich. Dazu müssen sich die Eingeschlossenen öffnen. Einer kommt frei, einer entkommt der Höhle und sieht die Sonne und geht wieder in die Höhle und erzählt vom Licht, dann wird er getötet. Der Freie opfert sich.

Also, es geht um Freiheit: Freistatt. Das Sommercamp bietet Freiraum, um sich zu öffnen. Offen gehe ich ins Freie.
Freistatt bietet Bewußtseinserweiterung. Ist eine Gruppenerfahrung. Freistatt ist eine Initiation.
In was wird der Adept eingeweiht? Er wird in sich selbst eingeweiht, durch eine Selbsterfahrung.
Die Einweihung erleuchtet. Der Erleuchtete erkennt sich selbst.

Nächstes Jahr sollte gemeinsam meditiert werden. Der Dalai Lama sollte einen Vortrag halten.
Es sollte mehr über das Nichts geredet werden.

Fazit: Freistatt ist ein Erfolg, wenn die Leute verrückt gemacht werden, wenn die Leute verrückter werden als sie es sind. Wenn die Leute an sich glauben, an etwas, an eine Idee, an die Zukunft / an Gott, das Nichts, Aliens, die Weltregierung.

Die Leute werden zum Glauben verführt: zur Illusion. Die Leute werden belogen, um sie zum Leben zu verführen (Nietzsche). Freistatt ist eine Lüge oder schreckliche und vernichtende und tödliche Wahrheit.
Die Leute erkennen sich selbst und brechen zusammen, oder sie erkennen sich selbst und werden heilig.
In Freistatt wird man heilig. Die armen Menschen bilden die Gemeinschaft der Heiligen.
Der Heiligste ist der Lügner Nummer 1. Der unglaubliche ... (Name einsetzen).

Die Diakonie hat nicht den Mut zur Gemeinschaft der Heiligen. Es geht aber doch um die Gründung eines neuen Ordens, einer neuen Kirche: nicht einer neuen Religion, sondern einer neuen Kaste, eines neuen Kunstvereins.
Der Heilige hat die Kunst des Lebens. Der Heilige ist ein Künstler.

Bis dann,

H.

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