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Ein Nachruf von Karsten Krampitz

Rainer Schroeder - Foto von Karsten KrampitzZu Rainer Schröder habe ich mal gesagt: „Alter, du solltest Papst werden.“ Und ich weiß noch, dass ich dachte: ‚Mit dem langen Bart siehst du doch aus wie Gott. Warum soll Gott denn Papst werden?‘ Im Sommer 2016 war das in Freistatt, als wir uns beide ein Zimmer teilten. Beide wollten wir beim Wohnungslosencamp dabei sein, aber nicht draußen in den Zelten schlafen. Noch gut erinnere ich mich an die lange Reihe leerer Flaschen bei uns auf dem Fußboden – will heißen: Rainer und ich hatten eine gute Zeit. An den Abenden haben wir viel geredet, über Alkohol und Drogen und sogar über Papst Benedikt XVI., der 2010 bei seiner Wahl von sich behauptet hatte: „Ich bin nur ein einfacher demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.“ Mein Zimmerkumpel meinte dazu: „Der weiß doch gar nicht, wovon er spricht. Vom Weinanbau hat der doch keine Ahnung.“ Und ganz ehrlich: Statt Ratzinger hätte besser Rainer den Job übernommen…
Ich bin nicht bibelfest. Muss ich auch nicht als Atheist. Aber ich denke, dass alles Wichtige, die ursprünglich humanistische Botschaft des Christentums, im Gleichnis vom Weinberg steckt, Matthäus-Evangelium, Kapitel 20, Vers 1-16. In dieser Geschichte wird das Reich Gottes mit einem Hausherrn verglichen, der am Morgen Leute einstellt, damit sie auf seinem Weinberg arbeiten. Er vereinbart mit ihnen einen Tagelohn von einem Silberstück. Im Verlaufe des Tages stellt der Weinbergbesitzer immer wieder neue Arbeiter ein – schließlich sogar solche, die für ihn bis zum Feierabend allenfalls eine Stunde tätig sind. Als der Tag dann zu Ende geht, bezahlt Big Boss zur Überraschung aller zuerst jene Arbeiter, die er zuletzt eingestellt hat, d.h. er zieht jene vor, die für ihn nur eine Stunde gearbeitet haben. Und das mit einem Silberstück! Auch alle anderen erhalten diesen Lohn. – Unter der Belegschaft des Weinbergs sorgt derlei Geschäftsgebaren für große Aufregung! Die Leute, die den ganzen Tag gearbeitet haben, beschweren sich. Über ihre Klage gegen die vermeintlichen Schmarotzer lesen wir: „Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.“ Der Besitzer des Weinbergs aber sagt: „Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.“
Und darum geht es: Gerechtigkeit fragt nicht, wer schafft am meisten, wer bringt die größte Leistung. Gerechtigkeit heißt, dem Menschen gerecht sein; denn auch die Letzten, die auf dem Weinberg angefangen haben zu arbeiten, haben Familie, haben Grundbedürfnisse. Auch sie haben ein Recht zu leben. Und so steht geschrieben: „Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Rainer Schröder war einer, der weder frühmorgens noch am späten Nachmittag zum Weinberg des Herrn gegangen ist. Warum auch? Rainer hatte über viele Jahre seinen eigenen, irgendwo an der Mosel. Ein ehemals brachliegender Rebgarten mit einer kleinen Hütte, die er mit Duldung des Besitzers wieder flottgemacht hatte, war sein Zuhause. Kein großer Wohlstand, zum Leben aber habe es gereicht. Pacht oder ähnliches musste er nicht zahlen. Eines Tages aber seien die Behörden bei ihm aufgetaucht und hätten Stress gemacht. Seine Steuerschuld wurde geschätzt, in fünfstelliger Höhe – und Rainer suchte das Weite; ging wieder auf Trebe.
Mehr weiß ich nicht über ihn. Nur so viel: Wie so viele der auf der Straße lebenden Menschen hatte auch er ein „bürgerliches“ Arbeitsleben hinter sich, als hochqualifizierter Konstrukteur im Kraftwerksbau, bis die Firma seine Stelle gestrichen hat. Eine Familie hat es auch gegeben, aber darüber haben wir kaum geredet. Ich weiß nur, dass er ein gutes Verhältnis zu seiner Tochter hatte.
Beim Treffen in Freistatt hielt Rainer Schröder im „Haus Wegwende“ einen längeren Vortrag über die Probleme der „Wohnungslosigkeit im ländlichen Raum“. Er sprach langsam und gut überlegt. Und ich war nicht der Einzige in der Runde, der meinte: Rainer spricht von sich. In der Stadt gebe es überall Hilfe: Suppenküchen, Notübernachtungen etc. – nicht so auf dem Land. Hier geht die Armut wirklich auf die Knochen, sie macht dich kaputt. Er schwärmte vom integrierten Gesamthilfesystem der Diakonie Michaelshoven, davon dass die Hilfe dort dem Menschen angepasst wird und nicht umgekehrt. Er erzählte auch vom „Haus Segenborn“, in dem er sich viele Jahre lang als Bewohnervertreter engagierte. Als solcher wurde er sogar wiedergewählt, nachdem er längst wieder eine eigene Wohnung bezogen hatte.
Die Leute haben Rainer gern zugehört. Nicht zuletzt, weil es keine „Geschichten“ waren; der Mann war authentisch. In der recht übersichtlichen Szene der politisch engagierten (ehemaligen) Obdachlosen begegnet einem schon des Öfteren der eine oder andere Schwätzer. Rainer Schröder war anders. Obwohl er etliche Funktionen und Aufgaben übernommen hatte – u.a. arbeitete er in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe mit, in der Bundesbetroffeneninitiative und noch dazu in der Nationalen Armutskonferenz – blieb er in seinem Auftreten ein sehr bescheidener, warmherziger Mensch. Und ich weiß noch, dass ich nicht schlecht gestaunt habe, als er in einem Nebensatz die Schwäche der ganzen Wohnungslosenselbsthilfe auf den Punkt brachte: „die deutsche Brille“. So lange wir nicht damit anfingen, die Leute aus Osteuropa in unseren Projekten mitzudenken, all die Wanderarbeiter, Roma usw., kämen wir politisch nicht voran.
Am 19. November 2017 ist Rainer Schröder gestorben. Er wurde 68 Jahre alt.